Hydraulische Berechnung
Für die Abbildung des Ablaufes eines Flusshochwassers ist ein hydrodynamisch-numerisches Modell (HN-Modell) erforderlich. Ein „hydrodynamisches“ Modell ist nämlich in der Lage, die maßgebenden Kräfte wie Erdanziehung, Reibungswiederstand und Trägheit zu berücksichtigen, die für die Fließvorgänge zuständig sind. Die Lösung der komplexen mathematischen Prozessgleichungen, die den Fließvorgang in Oberflächengewässer beschreiben, ist i.d.R. nur durch eine „numerische“ Diskretisierung des Kontinuums (Raum und Zeit) möglich.
1D, 2D und 3D HN-Modelle: Vor- und Nachteile
Je nach Zielsetzung und dimensionale Auflösung der gesuchten Größen – vor allem Wasserstand und Fließgeschwindigkeit – können die grundlegenden Gleichungen verschiedenen Vereinfachungen unterzogen werden, ohne ihre Gültigkeit signifikant einzuschränken. Daraus resultieren Modelle mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen:
- 3-dimensionale Modelle: 3D-HN-Modelle finden ihre Anwendung bei kleinskaligen Berechnungsfeldern, bei der Umströmung von Bauwerken sowie bei Einlaufbauwerken von Wasserkraftwerken, wo die Abbildung möglicher Wirbel und die Kenntnis aller drei Geschwindigkeitskomponenten von Bedeutung ist. Der große Aufwand zur Erstellung bleibt zusammen mit dem enormen Bedarf an Rechenkapazität der limitierende Faktor. Bei der Hochwassermodellierung werden 3D-Modelle daher nicht eingesetzt. Für die Strömungsberechnung kommen die vollständigen Navier-Stokes-Gleichungen für die x-, y- und z-Richtung zum Einsatz. Weit verbreiteten 3D-HN-Modelle sind u.a. Flow 3D, MIKE 3D, ANSYS CFX, Fluent und Delft 3D.
- 2-dimensionale Modelle: Bei den 2D-HN-Modellen verzichtet man auf die Information einer Richtung (meistens die Vertikale) und begnügt sich stattdessen mit ihrem Mittelwert. Die auf der Fließtiefe gemittelten Gleichungen (die sogenannten „Flachwassergleichungen“) ermöglichen eine genaue Erfassung der Strömungskennwerte (Fließgeschwindigkeit v, Wasserstand WS, Sohlschubspannung τ, …). Bei Fließgewässern mit überfluteten Vorländern und der Bildung von Geschwindigkeitsgradienten quer zur Fließrichtung stellen die 2D-HN-Modelle einen guten Kompromiss zwischen dem Erstellungsaufwand und der akkuraten Abbildung der Fließvorgänge dar. Diese Modelle werden geläufig bei der Berechnung von Hochwasserwellen erfolgreich eingesetzt. Der Einsatzbereich reicht von der Untersuchung eines lokalen Objektschutzes bis hin zur Ermittlung von Überschwemmungsflächen von mehreren Quadratkilometern. Gängige Softwarepakete für diesen Bereich sind InfoWorks ICM, Hydro_AS-2D, MIKE 21, SOBEK, FloodArea und Flow 2D.
- 1-dimensionale Modelle: Die Lösung von 1D-HN-Modellen geht im Vergleich zu den 2D und 3D Modellen um einige Größenordnungen schneller. Die Verteilung der Strömungskennwerte (WS, v, …) quer zur Fließrichtung wird bei 1D- Modellen zu den „Saint-Venant-Gleichungen“ gemittelt. Die Kenngrößen werden somit lediglich in Hauptfließrichtung berechnet. Eventuell lässt sich die Berechnung für Hauptbett bzw. Vorländer/Uferzonen aufteilen (Gewässer mit gegliederten Querschnitten). Der typische Anwendungsbereich ist die Ermittlung der Wasserspiegellinie in Fließgewässern mit vorwiegend gleichmäßigen Querschnitten. Die untersuchten Fließstrecken können dabei von wenigen Hundertmetern bis zu einigen Hundertkilometern reichen. Es gibt eine große Vielfalt an 1D-HN-Modelle, darunter: InfoWorks ICM, HEC-RAS, Jabron, WSPWIN, MIKE 11 und FLUSS.
Wo ein homogenes Vorland vorhanden ist und die Strömung parallel zur Talachse verläuft, kann eine horizontale Lage des Wasserspiegels quer zur Hauptfließrichtung annähernd angenommen werden. Weit verbreitete Praxis ist es in diesem Fall, sich von 1D-HN-Modellen für die Wasserspiegellage zu bedienen und diese anschließend orthogonal zur Talachse auf die umliegenden Vorländer zu erweitern. Aus der Differenz mit dem DGM und mittels Interpolation lässt sich daraus ein 2D-Thema mit der Wassertiefe (WT) erstellen. Die Bereiche mit WT > 0 stellen dabei die Ausuferungsfläche dar. Einige Software stellen dazu entsprechende GIS-Schnittstellen bereit wie z.B. HEC-GeoRAS.
Immer häufiger finden hybride Modelle Verwendung, bei denen die 1D-Flussabschnitte mit 2D-Bereiche gekoppelt werden, wo eine Ausuferung erwartet bzw. das gewünschte Detaillierungsrad höher ist.
Die Wahl des passenden Modells ist auch von der Gebietsgröße (begrenzter Flussabschnitt, Gesamteinzugsgebiet) und von der Verfügbarkeit von Datengrundlagen (Digitale Geländemodell DGM, terrestrische Vermessung) diktiert.
Ein klarer Vorteil eines 2D-HN-Modells besteht darin, für jedes Element bzw. jede Zelle, in dem das Gebiet unterteilt ist, den Geschwindigkeitsvektor ausgeben zu können. Die 1D-Modelle unterscheiden höchstens zwischen der Geschwindigkeit im Fluss und auf dem Vorland. Die Strömungsrichtung wird dazu nicht berechnet, sondern sie ist bei der Geometrie vorgegeben.
Stationäre und instationäre Modelle
Obwohl alle Naturprozesse zeitabhängig (instationär) sind, verläuft eine Hochwasserwelle unter Umstände ausreichend langsam, um sie durch einer Aufeinanderfolge von zeitunabhängigen (stationären) Zuständen hinreichend genau simulieren zu können.
In Hinblick auf die Zeitabhängigkeit (z.B. vom Abfluss Q von der Zeit t) unterscheidet man also zwischen:
- Stationären Modellen, die einen Zustand beschreiben, wo die zeitlichen Änderungen vernachlässigbar sind [Q = konst],
- quasistationäre Modelle, die die zeitliche Änderungen als Aufeinanderfolge von stationären Zustände simulieren [Q = Q(t1), Q(t2) … Q(tn)] und
- instationäre Modelle, die die Zeitabhängigkeit der Prozesse bewahren [Q = Q(t)].
Nur instationäre Modelle können dem innewohnenden Abflachungsprozess einer Hochwasserwelle (Retention), sowie der Auswirkung von Retentionsräumen Rechnung tragen. Obwohl die Wellendämpfung bei Quasistationären Modellen durch ein vorgeschaltetes hydrologisches Modell berücksichtigt werden kann, gewähren nur die instationären Modelle eine korrekte Volumenbilanz (Einhaltung der Kontinuitätsbedingung). Stationäre Modelle sind hingegen nicht volumentreu.
Der instationäre Ansatz bei der Berechnung von Hochwasser ist immer vorzuziehen, wenn die Zuflüsse als Ganglinie Q = Q(t) vorhanden bzw. abgeschätzt sind.
Dabei sollte man berücksichtigen, dass der Rechenaufwand mit der Dimensionalität, der Instationärität und der Ausdehnung des Modells überproportional zunimmt.
Modellerstellung
Um ein HN-Modell zur Simulation eines Hochwassers aufzubauen, sind verschiedene Grunddaten erforderlich:
- Zufluss aus dem Oberlauf, Einleitungen aus dem Kanalnetz sowie Seitenzuflüsse: Als Ganglinie Q(t) für eine instationäre Berechnung bzw. als konstanten Werte für den quasistationären sowie den stationären Ansatz (obere bzw. interne Randbedingung).
- Geschwindigkeitsverteilung am Einströmrand für 2D und 3D Modelle.
- Wasserstand (1D) bzw. Wasserstandsverteilung (2D und 3D) oder Abfluss-Wasserstand-Beziehung (Schlüsselkurve) am Auslass aus dem Modell (untere Randbedingung).
- Topographie des Flussbett und der Vorländer als Digitales Geländemodell (DGM) bzw. terrestrische Vermessung, LiDAR- bzw. LaserScan-Daten.
- Passende Rauhigkeitsbeiwerte für die unterschiedliche Beschaffenheit von Sohle, Böschungen, Bauwerken, Bewuchs und Vorländern. Dafür ist eine Gewässerbesichtigung durch kompetente Fachkräfte unerlässlich.
- Anfangsbedingungen: Für die instationären Modelle ist außerdem der Anfangswert der maßgebenden Kenngrößen (Wasserstand und Geschwindigkeitsvektor) im gesamten Modellgebiet vorzugeben.
Sowohl in 1D als auch in 2D-HN-Modellen sind die vorhandenen Querbauwerke (Brücken, Durchlässe, Wehre, Sohlschwellen, …) und sonstige Bauwerke, die zur Steuerung des Abflusses dienen (Streichwehre, Regelorgane und bei 1D auch Poldern), manuell einzupflegen.
Kalibrierung und Validierung
Trotz ihrer konzeptionellen Gesetzmäßigkeit enthalten die Strömungsgleichungen auch empirischen Ansätze (Reibungsverluste, Bewuchswirkung, Turbulenzmodelle, …). Bei HN-Modellen stellt meistens die Rauigkeit den mit der größten Unsicherheit behafteten Parameter dar. Jedes Modell bedarf daher unbedingt einer Kalibrierung: Die empirischen Parameter werden in einem iterativen Prozess so lange variiert, bis die errechneten Ergebnisse (meistens der Wasserstand) mit den direkt gemessenen bzw. indirekt abgeleiteten Werten eine ausreichend gute Übereinstimmung aufweisen. Nach einem Hochwasser ist z.B. die sogenannte Geschwemmsellinie (Ablagerung von Treibgut beim höchsten Wasserstand) üblicherweise gut erkennbar. Oft ist die Nässe an Fassaden bzw. eine gewisse Abrasion an Brückenpfeiler noch lange sichtbar. Für historische Ereignisse können Hochwassermarken vorhanden sein. Falls verfügbar, können natürlich auch Pegeldaten bei der Kalibrierung herangezogen werden.
Mit der Kalibrierung wird das Modell bei einem Ereignis so angepasst, dass die Ergebnisse mit der Beobachtung übereinstimmen. Die Überprüfung, ob der dabei gewählte Parametersatz auch für andere Ereignisse seine Gültigkeit bewahrt, nennt man Validierung. Sie verifiziert die Modellgüte, d.h. die Übertragbarkeit des Modells auf andere Ereignisse als bei der Kalibrierung (z.B. Hochwasser mit unterschiedlicher Wiederkehrzeit). Gegebenenfalls müssen unterschiedliche Parametersätze gewählt werden.
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